Wenn man Klavier spielt, hört man seit der Kindheit verwirrende Sachen über Liszt: er sei zuerst ein Schürzenjäger gewesen, der für Pianisten, die Lärm und Krach gerne haben, komponiert habe, dann ein Abt, dessen obskures und mystisches Lebensende nur Werke hervorgebracht habe, die nie aufgeführt seien. Er gilt fast nie als der geniale Komponist, der er ist : keiner mag Schürzenjäger und Äbte! Und doch hätten Wagner, Mahler und viele andere ohne seine musikalischen Innovationen vielleicht nicht die Meisterwerke komponiert, die wir kennen. Die schlimmste Sünde, die er begangen hat, ist eine glückliche Existenz geführt zu haben. Diesen Fehler teilt er mit einem anderen großen unterschätzten Menschen, Mendelssohn. Ein Leben von Leiden scheint die unabdingbare Voraussetzung dafür zu sein, im westlichen Denken ein Genie genannt werden zu dürfen.
Diejenigen, die sich für Liszts Werk interessieren, feststellen, dass er eine Vielzahl von Stücken komponiert hat, deren Tiefe und Umfang überwältigend sind, und nicht nur für Klavier. Darunter die Legende von der heiligen Elisabeth oder seine symphonischen Gedichte, um nur einige zu nennen.
Die Sonate
Und es gibt seine Sonate. Dieses Werk ist so groß, dass Liszt keine weitere Zeile komponieren müssen hätte, um ins Pantheon des menschlichen Genies zu gelangen. Menschlich? Die Frage stellt sich, da diese Sonate kaum erreichbar zu sein scheint, so sehr uns ihre Botschaft erhebt. Tatsächlich ist die gestreckte Linie von der ersten bis zur letzten Note wie eine Brücke, die in den Himmel hochklettert, ihre letzten Akkorde verlieren sich in der Limbus und lassen uns das blendende Licht des Jenseits erblicken.
Ich habe sie nie gespielt, ohne sie mit Tränen in den Augen zu beenden. Die Reise ist lang, sie bricht uns, sie rettet uns, sie entflammt uns und lässt uns schließlich die Dimensionen des Universums annehmen oder zumindest eine Vision davon sehen. Wie kann man sich von einer solchen Erfahrung nicht bewegen lassen?
Für jemanden, dessen Liszt ein spiritueller Führer durch das Leben ist, ist es nicht unbedeutend, die Noten seiner Sonate zum ersten Mal zu öffnen. Es dauerte viele Jahre, bis ich es wagte, aber im Januar sagte mir meine Intuition, dass es Zeit sei.
Also fing ich an, daran zu arbeiten. Ich war Assistentin am Opernhaus in Meiningen und während der Nachmittagspause kletterte ich jeden Tag wie ein Bergsteiger ein paar weitere Stufen meines inneren Everests. Die Sonate begann, unter meinen Fingern zu existieren. Eigentlich war ich diejenige, die dank ihr zu existieren anfing. Vielleicht kommt Ihnen das Gefühl, sich nie gefragt zu haben, wer man wirklich ist, bekannt vor? Das ist ein Eindruck, den ich oft habe, denn mein beschäftigter Alltag macht mich zu jemandem, der sich durch seine Handlungen, seine Interpretationen definiert und der wenig Zeit hat, sich zu viele Fragen über seine Identität zu stellen. Aber die Sonate kam, und ihr Lernen brachte all die kleinen Stücke von mir, die weit voneinander entfernt schwebten, zusammen. Es hat denen Einheit und Bedeutung gegeben. Sie stellte mich mir vor, sozusagen, und jeden Tag, der verging, war ich diejenige, die unter meinen eigenen Fingern Gestalt annahm.
Jeder von uns ist in seinen Alltag sehr eingezogen, und es führt sehr schnell dazu, sich selber aus den Augen zu verlieren. Deshalb wünsche ich jedem von uns, seine eigene Liszt Sonate kennenzulernen!
„Hätte Liszt nur diese Sonate in h-Moll geschrieben, ein gigantisches Werk aus einer einzigen Zelle, hätte es gereicht, um die Kraft seines Geistes zu demonstrieren.“
Richard Strauss ( 1864 – 1949 )